Wollschafe Familie auf grüner Weise am Hang

Bindung, Liebe und Identität

Die Notwendigkeit von Bindung

Als mensch­li­che Wesen brau­chen wir (wie alle Säu­ge­tiere) Kon­takt und Bin­dung.
Das Bin­dungs­ver­hal­tens­sys­tem ist ein ebenso fester Bestand­teil des gene­ti­schen Pro­gramms des Men­schen wie Ernäh­rung und Paa­rung. Es dient dazu, die Über­le­bens­wahr­schein­lich­keit zu erhö­hen und die Fort­pflan­zung der Art zu sichern.

Eine Bezie­hung zu einer pri­mä­ren Bezugs­per­son, in der Regel Mutter und / oder Vater, ist für das kör­per­li­che und emo­tio­nale Über­le­ben eines Kindes und für seine gesunde Ent­wick­lung unverzichtbar.

Die Mutter-Kind-Bindung beginnt mit dem Zeit­punkt der Emp­fäng­nis und ent­wi­ckelt sich wäh­rend der Schwan­ger­schaft. Sie prägt sich bei und nach der Geburt aus und ver­fes­tigt sich in ihrer beson­de­ren Qua­li­tät in den ersten 3 Lebens­jah­ren des Kindes.

Ist die Mutter in dieser Zeit belas­ten­dem Stress aus­ge­setzt, wirkt sich das auch auf das Kind aus.

Eine gesunde Mutter-Kind-Bindung beinhal­tet, dass die Mutter die Signale des Kindes fein­füh­lig, auf­merk­sam und unmit­tel­bar wahr­nimmt und inner­halb einer für das Kind tole­ra­blen Frus­tra­ti­ons­zeit ange­mes­sen auf die Bedürf­nisse des Kindes reagiert.

Kinder benö­ti­gen also nicht nur die Ver­sor­gung ihrer Grund­be­dürf­nisse, son­dern lie­be­vol­len (Körper-)Kontakt und Zuge­wandt­heit von ihren nahen Bin­dungs­part­nern, Sicher­heit, Auf­merk­sam­keit, Beziehung.

Beson­ders die Qua­li­tät der non­ver­ba­len Kom­mu­ni­ka­tion in der Bin­dungs­be­zie­hung ent­schei­det dar­über, ob ein Baby eine sichere oder unsi­chere Bin­dung ent­wi­ckeln wird.

Bindung und Autonomie

Zu Kon­takt und Bin­dung gehört auch die Erfül­lung unse­rer Auto­no­mie­be­dürf­nisse.
Ist die Bin­dungs­per­son erreich­bar für Schutz, Beru­hi­gung und Unter­stüt­zung, dann fühlt sich das Kind in der Lage, seine Umge­bung aus­gie­big zu erkun­den.
Wendet sich die Mutter ab und ist teil­weise abwe­send, dann unter­bricht das Kind sofort seine Erkun­dun­gen.
Das Explo­ra­ti­ons­ver­hal­ten steht also in engem Zusam­men­hang zum Beziehungssystem.

Co-Regulation und Berührung

Wir lernen Selbst­re­gu­lie­rung durch ein ein­ge­stimm­tes Gegen­über und acht­sa­men Kontakt.

Das unreife Ner­ven­sys­tem eines Babys hat noch keine Mög­lich­keit der Selbst­re­gu­la­tion und ist abhän­gig davon, dass die Mutter die Emo­tio­nen des Kindes ver­steht, es durch ihr Gewahr­sein, ihre emo­tio­nale Ruhe und durch wohl­wol­len­den Kör­per­kon­takt reguliert.

Wird ein Baby auf gesunde Weise co-reguliert, unter­stützt das die spä­tere Selbst­re­gu­la­tion. Wenn die Mutter dazu jedoch dau­er­haft nicht in der Lage oder abwe­send ist, kommt ein Kind unter Stress und gerät zuneh­mend in einen Stru­del der Dysregulation.

Dies kann sich später in stän­di­ger Überr­er­re­gung, Hyper­vi­gi­lanz (über­aus­ge­präg­ter Wach­sam­keit), ADHS, Schreck­haf­tig­keit und wei­te­ren Sym­pto­men äußern (siehe auch Das auto­nome Ner­ven­sys­tem auf der Seite Soma­tic Expe­ri­en­cing).

Berührt zu werden gehört zu den Grund­be­dürf­nis­sen eines Kindes und ist ent­schei­dend für das Gefühl, will­kom­men zu sein. Es ist die kör­per­li­che Bestä­ti­gung unse­rer Exis­tenz. Damit wir uns als Baby in unse­rer Abhän­gig­keit und Schutz­lo­sig­keit sicher und gebor­gen fühlen können, brau­chen wir in den ersten Lebens­mo­na­ten neben der lie­be­vol­len Zuwen­dung auch den stän­di­gen Kör­per­kon­takt zu Mutter oder Vater.
So fühlen wir unsere kör­per­li­chen Gren­zen, und es ent­wick­len sich genü­gend Oxy­to­cin­re­zep­to­ren2Oxy­to­cin = „Bin­dungs­hor­mon“, damit wir uns ent­span­nen können. Wurden wir als Kind nicht genug berührt und gehal­ten, erle­ben wir das als Verlassen-Werden, auch wenn wir aus­rei­chend ver­sorgt worden sind.

Trauma der Liebe

Hat ein Kind keine sichere Bin­dung erlebt bzw. hatte es kein lie­be­vol­les Gegen­über, das es gespie­gelt, regu­liert und zärt­lich umsorgt hat, erlebt es sich in seinem uner­füll­ten Bin­dungs­be­dürf­nis hilf­los, ohn­mäch­tig und bekommt Todesängste.

Prof. Franz Rup­pert nennt dies das Trauma der Liebe: die Unmög­lich­keit, in der Bin­dungs­be­zie­hung mit Mutter und Vater die Liebe zu bekom­men, von der man abhän­gig ist.

Das Kind ist gezwun­gen, sich an die Bin­dungs­per­so­nen anzu­pas­sen und alle Wahr­neh­mun­gen aus­zu­schlie­ßen, die eine Bin­dungs­be­zie­hung gefähr­den könnten.

Das bedeu­tet: ein Kind muss die eige­nen Bedürf­nisse und Gefühle ver­drän­gen und abspal­ten, um in der Bin­dungs­be­zie­hung mit seinen Eltern blei­ben zu können.

Symbiotische Verstrickung

Um sich trotz­dem Zuge­hö­rig­keit, Halt, Kon­takt und Ori­en­tie­rung zu sichern, beginnt ein Kind, die eige­nen Sin­ne­s­ka­näle und Gren­zen immer weiter zu öffnen. Auf diesem Weg kommt es auch mit den abge­spal­te­nen Traum­age­füh­len der Eltern oder Groß­el­tern in Kontakt.

Das scheint für manche Kinder der ein­zige Weg zu sein, in emo­tio­na­len Kon­takt mit ihren Bezugs­per­so­nen zu treten. Ohne dass wir uns dessen gewahr sind, werden wir so in die Traum­age­fühle, die in unserer Fami­lie herr­schen, eingebunden.

Die Über­nahme von frem­den Traum­age­füh­len und die Iden­ti­fi­zie­rung damit kann sich über den Bin­dungs­pro­zess über meh­rere Gene­ra­tio­nen fortsetzen.

Diese unbe­wuss­ten Ver­bin­dun­gen und eine große Loya­li­tät zu unse­rem Fami­li­en­sys­tem hin­dern uns oft daran, ein eige­nes freies und selbst­be­stimm­tes Leben zu führen.

Zugehörigkeit und Identität

Mit sol­chen Anpas­sungs­me­cha­nis­men schaf­fen wir es, unsere Kind­heit kör­per­lich zu über­ste­hen und erwach­sen zu werden, aber die Qua­li­tä­ten unse­res Ursprungs­we­sens können sich nicht oder nur schwer in uns verwirklichen.

Das kann sich im Außen dahin­ge­hend spie­geln, dass wir unsere per­sön­li­chen Wün­sche auf­ge­ben und den Vor­ga­ben und Tra­di­tio­nen unse­rer Fami­lie folgen, z.B. einen Beruf ergrei­fen, der uns nicht erfüllt, eine Part­ner­schaft ein­ge­hen, die uns nicht glück­lich macht oder uns eine Part­ner­schaft ver­sa­gen – dies alles, um den »Vor­ga­ben« unse­res Bin­dungs­sys­tems zu ent­spre­chen und uns so Zuge­hö­rig­keit zu sichern.

Die Auf­gabe und der Ver­lust unse­res indi­vi­du­el­len eige­nen Wesens­kerns ist ein zutiefst schmerz­haf­tes Erle­ben, dem wir uns noch einmal stel­len müssen, wenn wir uns in unse­rer Indi­vi­dua­li­tät und Ein­zig­ar­tig­keit wie­der­fin­den wollen.

Trauma, Bindung, Liebe, Identität

Ablö­sungs­pro­zesse ver­lau­fen selten grad­li­nig und schnell, wir fahren Kurven, fallen zurück, es geht rauf und runter, aber im Ide­al­fall kommen wir uns selbst dabei näher, ohne unsere Fami­lie, und das, was uns wirk­lich wich­tig ist, zu ver­lie­ren.
Sandra Konrad

Lite­ra­tur

Brisch, Karl Heinz: Bin­dungs­stö­run­gen. Von der Bin­dungs­theo­rie zur The­ra­pie.
Klett-Cotta, Stutt­gart, 1999/2009 bzw. 13/2015

Konrad, Sandra Dr.: Das bleibt in der Fami­lie. Von Liebe, Loya­li­tät und uralten Lasten.
Piper Verlag, Mün­chen, 2013.

Rup­pert, Franz: Frühes Trauma. Schwan­ger­schaft, Geburt und erste Lebens­jahre.
Klett-Cotta, Stutt­gart, 2014.

Rup­pert, Franz: Sym­biose und Auto­no­mie. Sym­bio­se­trauma und Liebe jen­seits von Ver­stri­ckun­gen.
Klett-Cotta, Stutt­gart, 2010. 3/2012.