Begegnung mit den inneren Selbstanteilen

Neue Bindungserfahrungen und Selbst-Mitgefühl

Die in unse­rer Kind­heit ent­stan­de­nen Bin­dungs­mus­ter spie­geln nicht nur die Art und Weise, wie wir zu ande­ren Men­schen in Bezie­hung treten, son­dern auch, wie wir mit uns selber in Kon­takt sind, d.h. wel­chen Denk­mus­tern wir unter­lie­gen und wie wir mit uns, unse­ren Emp­fin­dun­gen umgehen.

Die gute Nach­richt: Die inne­ren Bezie­hungs­mo­delle sind unser ganzes Leben über ver­än­der­bar. Zwar haben wir früh­kind­lich fest­ge­legte Bin­dungs­mus­ter, doch auf­grund der Neu­ro­plas­ti­zi­tät unse­res Gehirns können wir sie unser ganzes Leben lang durch neue Bezie­hungs­er­fah­run­gen ver­än­dern. Des­halb liegt ein Fokus dieser Arbeit darauf, sich eine innere sichere, wohl­wol­lende und halt­ge­bende Umge­bung zu schaf­fen – ermög­licht durch eine neue Bin­dungs­er­fah­rung mit unse­ren Selbstanteilen.

Dafür ist es wich­tig, dass wir als mit­füh­lende Erwach­sene freund­li­che Gast­ge­bende für all unsere Selbst­an­teile werden, auch die jungen, kind­li­chen, verletzten.

Aus dieser Per­spek­tive betrach­ten wir alle quä­len­den oder unan­ge­neh­men Gedan­ken, Gefühle oder Kör­per­emp­fin­dun­gen, die der aktu­el­len Situa­tion nicht ange­mes­sen sind, jeweils als Aspekt eines kind­li­chen oder jugend­li­chen Per­sön­lich­keits­an­teils. Dazu können auch nega­tive oder selbst­be­stra­fende Über­zeu­gun­gen gehö­ren sowie innere Kon­flikte, Ambi­va­lenz, stän­dig wie­der­keh­rende Gedan­ken oder auto­ma­ti­sierte unan­ge­mes­sene Reaktionen.

Im dualen Gewahr­sein, d.h. aus der Erwach­se­nen­po­si­tion im Hier und Jetzt, ist es mög­lich, die Emp­fin­dun­gen von damals zu spüren, als solche ein­zu­ord­nen und mit Empa­thie auf uns als Kind zu schauen – in ver­träg­li­chen Dosen und mit unter­stüt­zen­der Beglei­tung. So kann etwas inte­griert werden, was vorher abge­spal­ten war.

(…) müssen wir in der Trau­ma­the­ra­pie das Augen­merk weni­ger auf schmerz­li­che und trau­ma­ti­sche Ereig­nisse rich­ten, als viel­mehr darauf, Mit­ge­fühl für unsere aus­ge­blen­de­ten Selbste und ihre schmerz­li­chen Erfah­run­gen zu ent­wi­ckeln. Wenn sich all unsere Selbst­an­teile inner­lich mit­ein­an­der ver­bun­den und lie­be­voll gehal­ten fühlen, kann jeder von ihnen – oft zum ersten Mal – die Erfah­rung machen, gebor­gen, will­kom­men und wert­ge­schätzt zu sein.
Janina Fisher

Aufstellungen mit dem Anliegenssatz

Die Klientinnen/Klienten wählen einen Anlie­gens­satz – einen Satz oder eine Frage zu einem bestimm­ten Thema – und legen Boden­an­ker für die ein­zel­nen (oder aus­ge­wähl­ten) Wörter in den Raum. Dann bitte ich sie, Kon­takt zu den ein­zel­nen Wör­tern (= Boden­an­kern) auf­zu­neh­men. Dabei können Bilder, Gefühle, Kör­per­sen­sa­tio­nen oder Erin­ne­run­gen auf­tau­chen. Diesen Pro­zess spie­gele und begleite ich erläuternd.

Die Boden­an­ker reprä­sen­tie­ren über die gewähl­ten Wörter unsere inne­ren Anteile in Bezug auf das genannte Anlie­gen. In einer Auf­stel­lung mit unse­ren inne­ren Selbst­an­tei­len können wir wahr­neh­men, wie wir eine bestimmte Situa­tion oder Zeit erlebt haben, und erken­nen, wie das womög­lich mit einem aktu­el­len Thema zusammenhängt.

Oft wird dabei deut­lich, welche unse­rer Anteile von unse­ren Eltern oder Groß­el­tern stark bee­ein­flusst oder über­la­gert sind, und wie wir ihre Über­zeu­gun­gen und Hal­tun­gen als unsere eige­nen ver­in­ner­licht haben.

Die Methode hilft, Ver­stri­ckun­gen auf­zu­de­cken, Trau­mata und Über­le­bens­stra­te­gien bewusst zu machen und diese in die eigene Bio­gra­fie zu inte­grie­ren.
Sie ermög­licht einen Zuge­winn an Klar­heit und Leben­dig­keit, einen freund­li­che­ren Blick auf sich und andere, das Ent­de­cken neuer Per­spek­ti­ven sowie eines eige­nen siche­ren Raums.

Obwohl Schmerz unver­meid­lich ist, ist Leiden ein Pro­dukt des Geis­tes. Dies bedeu­tet, dass wir unse­ren Geist dazu benut­zen können, die Art und Weise zu ver­än­dern, wie wir unser Leben erfah­ren.
Louis Cozo­lino

Lite­ra­tur

Fisher, Janina: Die Arbeit mit Selbst­an­tei­len in der Trau­ma­the­ra­pie. Jung­fer­mann Verlag, Pader­born, 2019

Peichl, Jochen: Jedes Ich ist viele Teile. Die inne­ren Selbst-Anteile als Res­source nutzen.
Kösel-Verlag, Mün­chen, 2010, 11/2022

Rup­pert, Franz: Mein Körper, mein Trauma, mein Ich. Anlie­gen auf­stel­len – aus der Trau­ma­bio­gra­fie aus­stei­gen. Kösel-Verlag, Mün­chen, 2017

Walker, Pete: Das Tao der Gefühle. Ver­ge­bung prak­ti­zie­ren und trau­ma­ti­sche Kind­heits­er­in­ne­run­gen hinter sich lassen. Narayana-Verlag, Kan­dern, 2021